Sie sind wild, lebendig, majestätisch. Wasserfälle haben etwas unglaublich faszinierendes, sie wirken schon beim Anblick wie eine reinigende Kur für die Seele. Die gewaltigen Wassermassen, die sich über Klippen in die Tiefe stürzen, das kraftvolle Tosen, das die Luft erfüllt und der feine Sprühnebel, der in glitzernden Regenbogenfarben empor steigt – während man gefühlt sehr klein dem strömenden Wasser gegenüber steht, begegnet einem die Natur, wo sie zugleich mächtig, friedlich, großartig und ursprünglich ist.
Die Northwest Territories in Kanadas Norden sind ein Wasserfall-Wunderland. Ob ein schäumender Wasserfall am Straßenrand in der South Slave Region, ein ohrenbetäubender Tsunami in den Mackenzie Bergen oder ein idyllischer Quell in den Barrenlands – die Northwest Territories haben ein riesiges Wasservorkommen und schier endlose Felsvorsprünge, von denen die Flüsse herunterhüpfen.
Die Virginia Falls sind der Vorzeigewasserfall des Nordens. Staunend steht man vor einer flüssigen Lawine, die endlos weiterrollt. Hier fallen täglich rund 100 Millionen Tonnen des Nahanni Flusses eine 30-stöckige Bergwand herunter. Über Generationen sind die Dene Ureinwohner zu den Virgina Falls gepilgert; manchmal haben sich ihnen besonders robuste und ausdauernde Reisende, die im Nahanni National Park Reserve unterwegs waren, angeschlossen. Auch wenn man nicht gläubig ist, verlässt man die Virgina Falls mit dem Gefühl, gerade gesegnet worden zu sein.
Landschaftsarchitekten hätten die perfekten Lady Evelyn Falls kaum besser planen können, als die Natur sie gebaut hat. Die Kaskaden, ein Wasserfall über mehrere Stufen, sind über eine Straße erreichbar und befindet sich ganz in der Nähe des kleinen Dorfes Kakisa, einer Dene Siedlung mit rund 45 Einwohnern. Vor langer Zeit war da, wo jetzt der Kakisa Fluss gluckernd die Stufen hinunter stolpert, ein Korallenriff. An den sichelförmigen Felsen fallen die Lady Evelyn Falls wie ein knapp 18 Meter langer Vorhang aus Sprühnebel und Gischt herab.
Spektakulär ist auch der Tuktut Nogait National Park, weil die Landschaft hier so rau, gewaltig und einfach ist. Der Park streift die berühmte Northwest Passage, den Seeweg, der einen entlang der kanadische Ufer vom Atlantik durch die Polarmeere zum Pazifik führt. Oder andersrum. Hier oben, 200 Kilometer oberhalb des Polarkreises, macht der Hornaday River einen spektakulären Kopfsprung aus über 20 Metern Höhe: La Ronciere Falls liegt in einer beeindruckenden Landschaft aus massigen, zerklüfteten Felsen. Sie umranden den Fluss, der sich durch die Schluchten seinen Weg ins Polarmeer bahnt.
Ein kurzer Halt an den Alexandra Falls ist ein Muss auf der Reise nördlich des 60. Breitengrades. Der 10-geschossige Wasserfall des Hay Rivers ist das Herzstück im Twin Falls Territorial Park, nahe der Siedlung Enterprise. Hier bekommt man auch zum ersten Mal, nachdem man den 60. Breitengrad überquert hat wieder Benzin und Lebensmittel und von den Einheimischen handgemachte Souvenirs, ein Motel gibt es auch. 2003 ist ein amerikanischer Abenteurer auf die verrückte Idee gekommen, die Alexandra Falls mit dem Kajak runter zu fahren. Man fragt sich zwar wie, aber er hat es tatsächlich überlebt. Aber für normal verrückte Kanadaverliebte ist ein Fotostopp am Wasserfall auch schon spektakulär genug.
Und wenn man die Reise zu den Alexandra Falls schon mal auf sich genommen hat, kann man direkt noch eine kleine Tageswanderung zu den Louise Falls mit einplanen. Zwei zum Preis von einem? Na klar! Die Louise Falls sind nur vier Kilometer flussabwärts von den Alexandra Falls entfernt. Oder flussaufwärts von Enterprise aus. Und neben dem Wasserfall liegt einer der schönsten und beliebtesten Campingplätze der Northwest Territories, von dort hat man einen wunderbaren Blick auf die 15 Meter hohen, stufigen Stromschnellen im Hay River Canyon.
Da klingen acht Meter Höhe im direkten Vergleich nicht so verlockend, aber die Parry Falls sind anders überwältigend, geheimnisvoll und sagenumwoben. Der Wasserfall im Lockheart River, an der östlichen Spitze des Great Slave Lake, ist ein heiliger Ort. Dem Mythos nach sitzt Ts’ankui Theda in einer Höhle hinter dem Wasserfall; eine alte Medizinfrau, die über den Ort und die Menschen wacht.
Die Bewohner aus Lutselk’e, ein traditionelles und malerisches kleines Städtchen und das einzige an der Ostseite des Sees, kommen einmal im Sommer gemeinsam zu den Parry Falls. Sie treffen sich zu einer spirituellen Versammlung und zeigen mit Opfergaben ihren Dank und Respekt.
Etwa eine dreiviertel Stunde über die Straße östlich von Yellowknife führt ein schöner Pfad über hügelige Felsnasen zu den Cameron Falls. Auf dem Weg zum Great Slave Lake stürzt sich der Cameron Fluss hier in die Tiefe. Über eine Brücke gelangt man auf die andere Seite und kann gemütlich picknicken, wo der Fluss friedlich ans Ufer schwappt. Und in den natürlichen Becken am Fuße des Wasserfalls finden Festspiele für Angler statt: hier tummeln sich unzählige Fische.
Mit donnerndem Getöse machen die Sambaa Deh Falls auf sich aufmerksam, wenn man über den Mackenzie Highway fährt. Als ob sie einem zurufen würden „halt an, guck mal, wie toll wir sind.“ Und das sind sie. Einen kleinen Spaziergang flussaufwärts sprudelt noch ein Wasserfall fröhlich vor sich hin: die Coral Falls sind weniger pompös, dafür hat man sie meist für sich allein. In der Nähe lädt die kleine Dene Siedlung Jean Marie River ein zu einem Zwischenstopp mit Picknick am Fluss, einer Kajaktour oder einer Fotosession mit einem ausgedienten, historischen Schleppdampfer, der jetzt am Ufer liegt.
Von der Hauptstadt Yellowknife aus ist man nach einem schnellen Flug in dem kleinen Örtchen Whatì, vor allem bei Anglern bekannt, weil es in der Gegend riesige Hechte und Forellen gibt. Und die relativ unbekannten Whatì Falls, die man von der Gemeinde aus über eine Straße erreicht. An der zerklüfteten Felswand gabelt sich der Fluss in zwei Überläufe, die nebeneinander lautstark herunterprasseln. In den Stromschnellen unterhalb des Falls schwimmen muntere und zahlreiche Lachse herum.
Von der historischen kleinen Ölstadt Norman Wells führt der etwas anspruchsvollere Canol Trail durch die Mackenzie Berge, bis zur Grenze des Yukon. Unterwegs trifft man auf die Carcajou Falls, die über eine steinige Steilwand sprudeln und die Luft mit glitzerndem Sprühnebel füllen. Weil der Weg nicht ganz einfach ist, kommt kaum ein Mensch hierher. Auch deshalb gehören die Carcajou Falls wohl zu den idyllischsten Wasserfällen im Norden.
Weitere Informationen über die Northwest Territories gibt es unter www.spectacularnwt.de.
Bild und Text mit freundlicher Genehmigung der Canadian Tourism Commission